Drei Fragen an Laura Andreß und Stefan Schweigert

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Wir stießen durch eine Dokumentation über den NSU darauf, in der ein Profiler des CIA zur Sprache kam. Dieser hatte schon 2006 – kurz nach dem Mord an Halit Yozgat, dem neunten Todesopfer der zum damaligen Zeitpunkt noch unaufgeklärten, deutschlandweiten Mordserie – die deutschen Behörden auf den Roman aufmerksam gemacht. In den darin beschriebenen, fiktionalen Terroraktionen sah er eine bedenkliche Ähnlichkeit, in den neun Morden und zwei Bombenattentaten in Köln die klare Handschrift rechter Terrorist_innen. Die deutschen Ermittelnden zeigten sich unbeeindruckt von dem Hinweis, schlossen rechten Terror aus und tappten weiter im Dunklen – bis es 2011 zur Selbstenttarnung des NSU kam und sich die Abgründe einer ganzen Epoche offenbarten.

Wir haben uns gefragt: Was hätte verhindert werden können, wenn man sich früher mit dem Stoff beschäftigt hätte? In rechten Kreisen sind die "Turner-Tagebücher" ein Standardwerk. Abseits davon kennt sie kaum jemand.

Und spätestens der über fünf Jahre andauernde Gerichtsprozess, in dem die anfängliche Hoffnung auf vollständige Aufklärung allmählich einer allgemeinen Zermürbung wich, hat gezeigt, dass es nicht reicht, wegzusehen, damit rechte Gewalt verschwindet. Mit dem Stück wollten wir einen Perspektivwechsel anbieten, weil wir fest daran glauben, dass man dem Erstarken verfassungs- und demokratiefeindlicher Organisationen und der realen Bedrohung, die von ihnen ausgeht, mit einer Ahnung von ihren Konzepten und Zielen begegnen muss.

© Ali Andress

Wie war denn der weitere Arbeitsprozess? Habt Ihr die textliche Grundlage zusammen mit den Spieler_innen erarbeitet oder seid Ihr mit einer von Euch erarbeiteten Textgrundlage in die Proben gegangen?

Das Stück verfolgt nicht das Ziel einer chronologischen Erzählung des fiktionalen Romans oder den realen Taten des NSU. Wir wollten viel mehr den Blick auf die Parallelen zwischen beiden Materialien schärfen. Der Abend nimmt gewissermaßen die Perspektive der Nebenanklage im NSU-Prozess ein und wirft einen Blick unter die Oberfläche einer scheinbar gefestigten Demokratie: immer auf der Suche nach Antworten auf die vielen Lücken im Prozess. Für die Erarbeitung der Textfassung haben wir tatsächlich die gesamten Prozessprotokolle, die in 5 Bänden auf Tausenden Seiten, verschriftlicht wurden, gelesen. Parallel dazu haben wir die Entsprechungen zwischen Roman und dem Prozess herausgearbeitet. Mit einem ersten Textvorschlag gingen wir in die Vorprobenphase, in der wir diesen gemeinsam mit den Spieler_innen überprüft haben. Dabei hatten wir wichtige Erkenntnisse – z.B. zu Fragen der Repräsentation auf der Bühne. Wir haben gemerkt, dass es sich nicht für alle Menschen, die im Gericht zu Wort kamen, gleichermaßen richtig und angemessen anfühlte, stellvertretend zu sprechen. Auch war von Anfang an klar, dass wir die rassistischen und ideologischen Inhalte der "Turner-Tagebücher", die im Roman in nur schwer erträglichen Mengen vorkommen, nur in dem Maß beibehalten wollten, den es brauchte, um den Kontext der Äußerungen noch zu verstehen.

© Ali Andress

Euer Stück ist aktueller und wichtiger denn je. Habt Ihr angesichts der aktuellen Lage des zunehmenden Rechtsrucks nicht nur in Europa Anpassungen am Text vorgenommen bzw. Änderungen am Abend, an der Inszenierung?

Wir haben für unser Stück das Mittel des Reenactments gewählt. Unser Theaterraum wird sozusagen zur performativen Zeitmaschine. Wir reaktivieren ein kulturelles Gedächtnis eines sehr markanten historischen Ereignisses und bringen dieses in die Gegenwart des Bühnenmoments und damit uns selbst in eine Nähe dazu. Es geht uns dabei um Wieder-Holung. Der fiktionale Stoff, auf den die Gerichtsprotokolle treffen, lässt das Gesagte im Prozess in ein anderes Licht rücken, er rekontextualisiert es.

Die wirklich bittere Erkenntnis des NSU-Prozesses ist letztlich auch, wie tiefgreifend und strukturell der Rassismus im deutschsprachigen Raum leider ist. Dass der NSU dermaßen lange unentdeckt bleiben konnte, ist auch den vorverurteilenden Ermittlungen, die rassistische Motive schnell ausschlossen, aber stattdessen einen Hintergrund in migrantischen Communities und im Rauschgiftmilieu vermuteten, zu „verdanken“. Auch in den Medien war leichtfertig von "Döner-Morden" die Rede. Daran hat sich bis heute nichts Grundlegendes verändert. Diesen strukturellen Rassismus als Nährboden für Extremismus und institutionelle Betriebsblindheit wollten wir im Stück spürbar machen. Wir wollten aber aus dem uns zur Verfügung stehenden Textmaterial heraus argumentieren und keine zusätzlichen Kommentare in Form von Texten oder dokumentarischen Videos setzen. Die Assoziationen zu jüngeren Fällen der letzten Jahre kommen leider ganz von alleine. Das Stück arbeitet stark mit visuellen Auslassungen. Das Publikum muss seine Bilder selbst ergänzen. Deshalb wollten wir gar keine konkreten Anspielungen auf jüngere Ereignisse vorgeben, denn das hätte es in unseren Augen wieder kleiner gemacht. Die "Turner-Tagebücher" stehen letztlich für eine übergeordnete Idee, sie dienen – wie auch andere fiktionale Stoffe – einer Szene als Blaupause. Ihre Nachahmer_innen haben aber viele Gesichter. Die allermeisten davon sind uns (noch) völlig unbekannt.

Wie weit verzweigt und gut organisiert – teils bis hin zu hohen, politischen Ämtern – die rechtsextreme Szene ist, begegnet uns in letzter Zeit wird uns in letzter Zeit immer wieder vor Augen geführt. Beispielsweise durch die Enthüllungen zur geheimen Potsdam-Konferenz von der Rechercheplattform Correctiv oder den neuesten Recherchen des Bayerischen Rundfunks, die zeigen, dass im deutschen Bundestag mehr als 100 Rechtsextreme arbeiten.

Die Fragen stellte Esther Holland-Merthen.